TOPOS 31

Mythologie


Inhalt

AUFSÄTZE

 

Dieter Kraft: Mythos und Ideologie. Zum politischen und theoretischen Umgang mit einer griechischen Vokabel (pdf)

Werner Wittenberger: Mythologie und Vernunft in der Geschichtsphilosophie des späten Schelling

Marcus Dick: Zwischen materialistischer Semiotik und semiotischem Materialismus: von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand de Saussure zu Claude Lévi-Strauss

Hans Heinz Holz: Sprachformen des Mythos

Jonas Heller: Das diesseitige Jenseits in den Religionen Chinas

Wilma Ruth Albrecht: Psychologie ohne Logos. Ein Mythos der Moderne

DISKUSSION

Hans Heinz Holz: Zu Domenico Losurdos Stalin-Buch

DOKUMENTATION

Dieter Frielinghaus: Hanfried Müller. 4. November 1925 - 3. März 2009

 


 

Editorial

Auf das Thema Mythologie fällt ein schillerndes Licht. Mythen waren in der Antike Integrationsideologien von Kulturen, staatsbildend im alten Ägypten[1], stammesübergreifend bei Griechen und Germanen[2]. In der Spätantike wurde das Römische Reich über dem synkretistischen Mythenpluralismus durch die kultische Apotheose des Kaisers als Einheit repräsentiert.[3] Dieses Erbe trat die römisch-katholische Kirche an, die unterhalb der Strenge des Trinitätsdogmas eine Fülle mythologischer Christus- und Heiligenlegenden kultivierte. Luther und Calvin beim Wort nehmend, entwickelte Rudolf Bultmann das Programm einer »Entmythologisierung« des Christentums, das zur Reinheit einer bilderlosen, in sich rationalen Verkündigung zurückführen wollte; als theologisches Programm mußte es scheitern, philosophisch hat es interessante Diskussionen ausgelöst.[4]

Die griechisch-römische Mythologie wirkte prägend auf das Menschenbild der französischen und deutschen Klassik ein. Und bis in die Gegenwart ist die aktualisierende Verarbeitung von Mythen zum stilbildenden Inhalt der Literatur geworden - von Sartre, Anouilh und Giraudoux bis zu Peter Hacks und Heiner Müller. Die große Einleitung zu Thomas Manns Josephsromanen reflektiert progressiv und kritisch die ideologische Rolle der Mythologie. Dem Leser 1940 ist wohl deutlicher geworden als den Lesern heute, daß Thomas Mann eine Gegenkonzeption bot zum Mißbrauch des Mythos durch Mussolini - der Mythos vom Neuen Rom - und Alfred Rosenbergs »Mythos des XX. Jahrhunderts«, nachdem Mussolini und Rosenberg als Schatten im Orkus der Geschichte verschwunden sind. Doch gibt es noch Mythologisierungen genug, die ein Wiederaufnehmen Mannscher Erwägungen sinnvoll machen; zusammen mit Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« sind sie die bedeutendsten Selbstreflexionen der Literatur des 20. Jahrhunderts.

Das vorliegende Heft richtet den Blick auf einige Aspekte der Mythologie. Dieter Kraft befaßt sich mit dem Zusammenhang von Mythologie und Ideologie, der weithin auch in modernen Mythentheorien greifbar wird und in der politischen Gegenwart der BRD zu abgründigen Tendenzen führt. Werner Wittenberger faßt das Mythologie-Problem, wie es sich der deutschen Klassik stellte und von Schelling in der reifsten Form zur philosophischen Theorie ausgearbeitet wurde, in der Polarität von Mythologie und Vernunft. Marcus Dick inauguriert ein neues Verständnis des methodischen Sinns der Mythologie-Forschungen von Claude Lévy-Strauss; dieser habe in Ausführung des Marxschen Ideologieprogramms die weltanschauungsbildende Vermittlungsebene zwischen Basis und Überbau freizulegen unternommen. Lévy-Strauss anläßlich seines 100. Geburtstages aus dem Dunstkreis der Poststrukturalisten herauszulösen, ist ein ergiebiger Beitrag zur dialektisch-materialistischen Ideologietheorie. Hans Heinz Holz analysiert die Sprachformen, in denen sich der originäre Mythos realisiert. Die daraus sich herausbildende Weltanschauung hat von Homer bis Platon die Philosophie determiniert. Hier kann nicht weiter entwickelt werden, wie die Struktur dieser Weltanschauung die Richtung beeinflußt hat, die europäisches Denken bei seinem weiteren Verlauf nahm; doch steht diese Frage im Hintergrund der Analyse, und ihre Beantwortung wäre für eine kulturvergleichende Weltanschauungslehre von zentraler Bedeutung. Jonas Heller zeigt am Beispiel China, daß der europäische Begriff der Mythologie auf andere Kulturen nicht einfach übertragbar ist. Sein Vortrag wurde 2008 auf dem Studientag des Religionswissenschaftlichen Seminars in Basel gehalten. Und Wilma Ruth Albrecht setzt sich mit jenem Wissenschaftsmythos der Moderne auseinander, der in der Psychologie den Logos einfach eskamotiert. In eigener Sache betroffen ist TOPOS durch die jeder Wissenschaftlichkeit Hohn sprechende Kampagne gegen unseren Mitherausgeber Domenico Losurdo in Italien wegen seines Buches über Stalin.[5] Hans Heinz Holz nimmt dazu im Dokumentationsteil Stellung.

In tiefer Trauer nehmen wir Abschied von unserem Freund Hanfried Müller. Was er durch die Herausgabe der »Weißenseer Blätter« an Bewußtseinsklärung geleistet hat, ist unschätzbar. In den Jahren, die den verräterischen Titel »Wendejahre« tragen, hat er gegen die sich wendenden und windenden Kleinmütigen, gegen die Opportunisten und gegen die Verwirrten die politische Vernunft verteidigt. Er war aus dem tiefsten Grund evangelischer Glaubensgewißheit politischer Kommunist Sein Christentum und sein Kommunismus bedurften keiner überwölbenden Dialog-Konstruktion, sondern waren in der Sache verbunden als die Wahrheit der Verkündigung in der Geschichtlichkeit unserer Epoche. Wer das begreifen will, greife zu seiner »Evangelischen Dogmatik im Überblick«, einem der außergewöhnlichten theologischen Bücher des 20. Jahrhunderts.

Wir haben mit Hanfried Müller einen Freund, einen Kämpfer, ein Vorbild verloren. Niemand hätte das in der Betroffenheit vom Tode in seiner Rede am Grabe bewegender sagen können als Dieter Frielinghaus, der ihm politisch und theologisch nahe war. Mit ihr nehmen wir Hanfried Müller auf in unsere Erinnerung, in der er uns gegenwärtig bleibt und für die Zukunft ein Licht setzt.


[1] Siehe Joachim Spiegel, Das Werden der altägyptischen Hochkultur, Heidelberg 1953; Siegfried Morenz, Ägyptische Religion, Stuttgart 1960.

[2] Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, Darmstadt 1955 (2. Aufl.); Wilhelm Groenbech, Kultur und Religion der Germanen, Darmstadt 1954 (3. Aufl.).

[3] Vgl. Richard Klein (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat, Darmstadt 1982.

[4] Rudolf Bultmann (zusammen mit Karl Jaspers), Zur Frage der Entmythologisierung, München 1954.

[5] Domenico Losurdo, Stalin. Sto ria e critica di una leggenda nera, Rom 2008.

 

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